Ich kann mich sehr gut an die Antwort erinnern, die mir mein Freund Markus einst lächelnd gab, als ich, bei ihm zu seltenen Besuch in Amsterdam irgendwann mal zähneknirschend meinte, mein Filmmaterial ginge aus (die Läden hatten zu bzw. waren zu weit entfernt, um schnell Nachschub zu kaufen):
“Na, DANN mußt Du halt die Bilder im Kopf behalten!”
Fotografieren nimmt einem diese “Erinnerungsarbeit” komplett ab- das wurde mir durch dieses kleine Zwischenwort sehr klar. Sie kann zwar die anderen sinnlichen Eindrücke nicht speichern oder gar ersetzen, doch ein stimmiges Foto kann das Gehirn sehr gut anschieben, sich auch die Stimmung, gar die Konsistenz der Luft, die lokalen Gerüche, Gespräche oder anderes, weitaus Ätherischeres wieder zu vergegenwärtigen.
Mir geht es nach all den Jahren so, daß ich nur zu Gelegenheiten, bei denen keine Kamera vorhanden ist/zum Einsatz kommt, auf dieses wie ich finde sehr wichtige Potential geistiger menschlicher Leistung zurückkomme, ansonsten aber “gelernt” habe, all die “Erinnerungsspeicherung” diesem chemisch-mechanischen Vorgang zu überlassen. Ja, es ist noch krasser: wenn ich mich an ein fotografiertes Erlebnis zurückerinnere, fallen mir nur diese fotografierten Bilder ein -ich muß dazu KEINEN Blick darauf werfen, um mich auch en detail an die Bilder = das Geknipste zu erinnern. Ansonsten ist da nichts Visuelles, an das ich mich erinnere. Manchmal darüberhinaus gar gar nichts mehr an sonstigen “Vorkommnissen dieses Tages” in meinem Kopf.
Diese äh, Kulturtechnik ist zwar modern- wer überantwortet zum Beispiel heute die Memorierung von Telefonnummern auch nur der engsten Freunde noch seinem Hirn- hinterläßt bei mir aber ein komisches Gefühl von Rückbau der eigenen Fähigkeiten. Man konnte das Leben auch schon anders.
Nun bin ich- mehr durch Zufall aufs Prinzip “Auf unentwickelte Halde fotografieren” gekommen: der Fotografierlust zwar keinen unsinnigen Riegel vorschieben, die belichteten Bilder aber erstmal dem Blick vorzuenthalten, indem ich sie -erstmal- nicht zum Entwickeln gebe. Sprich: lagern statt wiedersehen.
Mich an diese Dinge erinnern statt sie, wie bislang üblich, zeitnah begutachten, durchsehen, bewerten, bearbeiten, veröffentlichen, ablegen, archivieren, sortieren. All diese verarbeitenden Tätigkeiten, die sich im Laufe der Jahre eingefleischt haben. Das geht natürlich nur ohne Schmerzen, wenn man nicht digital fotografiert und nach jedem Schuß gleich das Ergebniss kontrollieren kann, sondern wie ich krampfhaft am Überkommenen festhält Und plötzlich geschieht es- wie heute eben wieder, daß ich mich irgendwo in der Gegend an einer Stelle wiederfinde, wo ich vor Monaten Bilder gemacht habe und mich an den Tag, das Licht, Wetterlage und die Motive erinnere.
Ein Plus an Wiederkehrendem also!
Dabei ist noch weiteres Erstaunliches festzustellen: nicht nur die Tatsache hier gemachte Aufnahmen kommen ins Gedächtnis, auch die Auswahl der Blickrichtungen (ich fotografiere fast immer Serien) und Motivansichten und, am Frappierendsten: ich fange an, mir zu überlegen, ob ich nichts vergessen habe, und: ob noch andere Ansichten möglich wären. Also eine Revision rein mental. Dazu gehört auch die Erkenntnis, daß dieses Motiv ja schon abgehakt ist und ich nicht wiederkommen muß. So was wie ein fotografischer Einkaufszettel etabliert sich also mit dieser “Latenztechnik” im Hirn.
Ob das nun gut ist oder nicht, muß sich noch herausstellen. Ich für meinen Teil finde diese Art, mit der persönlichen mentalen Fotografiertechnik zu experimentieren, sehr anregend, weil sie auf den Prozeß im Ganzen Hinweise gibt. Man lernt über sich dazu: vordergründig und am faszinierndsten, wie man die persönliche Haltung zum Fotografieren erlebt, wie man dazu emotional steht: will man Ergebnisse, die “gestalterische Leistung” sehen, persönliche Sichtweisen weitergeben oder auch/”nur” zeigen können. Das alles gesehen im sozial-psychologischen Licht: wie gelingt mir mithilfe meiner Fotos die Verbindung zu anderen Menschen? Brauche ich Fotos eigentlich für diesen Zweck, weil ich anderweitig Schwierigkeiten habe und sie durch die Macht des Visuellen, Realen hilft, easy eine kommunikativ-emotionaleVerbindung zu schaffen? (..) Oder geht es mehr um intrinsische Phänomene: um Wachsein in der Welt, In-der-Gegenwart-leben-mithilfe-des-mitgebrachten-Fotoauges, vitalisierende Gestaltungsübungen mit dem fotografischen Rahmen (Sucher), die Übung, (zum Beispiel Schönheit) zu sehen und -das Entdeckte erkennend- fotografisch festzuhalten.
Für sich selbst oder für die Außenwelt oder beides gleichzeitig in einer individuellen Gewichtung- all das kann man mit dieser etwas merkwürdig klingenden Methode mal ausprobieren. Und sich wieder ein Stück erkennen. ______________________________________________________________
Musik beim Schreiben heute:
Mattafix: “Signs Of A Struggle”, BeeGood Records (Virgin), 2005
Bitty McLean: “Natural High”, The Brilliant Recording Company, 1995