Reingretchen bildet. Am unschuldigen Anfang erst eine kurze Begeisterung (meine Fotos als Buchtitel-yeah!), dann ein kleiner Ideenfunke (da hätte ich noch mehr von- VIEL mehr), dann die fruchtbare Absage (sorry, Poodle: falsche=zu lasche Motive, Honorar gegen Null), aus der dieses große Projekt entspringt: eine neue Aussichtsplattform auf die Welt entsteht, das eigene Werk als Gesamtes (!) gewinnt eine bislang ungeahnte, fantastisch neue Dimension, die durch eben diese Tür betreten wird:

Plötzlich geht es um eine Verkettung einzelner Bilder mit einer Geschichte. Die Fotos werden dadurch größer, bekommen ein Potential, das sie in der Rolle als Einzelbilder, Exponate in Ausstellungen oder Postkarten nie haben können. Unscheinbare Motive oder kompositorisch unbefriedigende Bilder können durch diesen Verkettungs-Kniff interessant werden. Zu neuen Fotos werden: Fotos von Spuren, fiktiven Tatorten oder als visuelle Hinweise auf (kriminelle Tat-)Motive. Das Layout mit "Verlagsbalken" und sorgfältiger Auswahl der Schrift(en) und ihrer Lage im/überm Bild lassen etwas Größeres entstehen, geben belanglosen Bildern die Verknüpfung mit einer Story.

Dieses bildnerische Manko greift irgendwann schon beim Fotografieren in den Prozeß selbst ein, man denkt sich in den Bildausschnitt den Titel hinzu, man fotografiert anders. Neu. Und das fasziniert seit Stunde Null Reingretchen mit gespannter Erwartung der latenten Ideen, die sich beim späteren Sichten verdichten könnten. Wie man hier links schnell sehen kann: kein Postkartenmotiv. Dafür intensivstes Licht, ein blau-weißer Farbübergang, schön dezent-schmucke Komplementärkontraste, eine auffällige Giebelgestaltung mit nur einem Balkon, einem Fenster und einer merkwürdig mittigen Dachrinnen(?)abführung. Genug Platz am Himmel, um Autor und Titel unterzubringen, der dazu noch genau an buchcoveroptimalgeeigneter Stelle durchkreuzt ist. Also: mir kribbelt da der Taufnerv ;-)

Heute, nach gut zweihundert fertiggestellten Entwürfen kann ich ein Zwischenresümee ziehen: die meisten "Buchtitel" habe ich bislang durch bloßes assoziaitives Aus-der-Luft-Greifen gefunden. Immer das Bild im Blick kommen oft sehr schnell Bezeichungen angeflogen, die ich oft ohne Revision einige Zeit später als ok durchwinke.

Nicht zu unterschätzen als Voraussetzung dieser zugegeben windigen Angelegenheit: das Interesse an der Gegenwart, das stete Erweitern der Allgemeinbildung durch Neugier/easy Verfügbarkeit der Informationen per www, Gespräche mit Nachbarn, Passanten oder Kunden- in den Postkartenverkaufsstellen, frisch im Gelesen-werden begriffene Bücher- Anhaltender Input also.

Dann: Recherchen, Recherchen. Wie ein Strudel zieht es mich ins Internet, wenn ich einmal angefangen hab an irgendeiner Stelle. Meistens bildet wikipedia die Basis, von der aus alle in sonstig geöffneten Tabs vorbeiziehenden Namen, Phänomene oder unbekannte Worte kurz nachgesehen werden. Die Themen wechseln daher unvorhersehbar: thematisch-organisch verbunden oder jäh: ein anderes geöffnetes Tab gibt einen Laut..

Da ich mich als Fotografierenden sehe und nicht als angehenden Krimiautor, der bei seinen Geschichten viel mehr in die Tiefe (der Recherche, des Know-Howa) gehen müßte, hüpfe ich lediglich auf der Oberfläche- es geht ja "nur" um Titel, nicht um Dramaturgie, Details oder Kohärenz. Die Welt des Wissens, der Welt-, Kultur- oder politischen Geschichte öffnet sich so dem Reingretchen. Die Aufmerksamkeit wandert von Kuriosum zu Faszinosum.

Was ich dabei immer wieder höchst erstaunlich finde, sind die mich oft bestürzenden Details aus dem Leben von markanten historischen Persönlichkeiten: Todesfälle, Krankheiten, Tötungsdelikte, Verschleppungen, Selbstmorde- alle Sparten sind da zu finden. Alle dies Schiksale oder - schläge eröffnen aber ein tiefergehendes Verständnis für die jeweiligen Personen- die Vitae lesen sich oft wie Drehbuchentwürfe, rufen geradezu Bilder einer Verfilmung bei mir hervor.

Da ich mit dieser Assoziation natürlich nicht der Erste bin, lese ich im direkten Anschluß die Rezensionen der nach eben diesen Biografien gedrehten Filme. Und gelange von da dann oft in die (VIP-)Sphäre dieser Tage. In die Gegenwart, das Zeitalter der Kriminalromane.

Dabei wird alles gecopied&gepastet, was meine Aufmerksamkeit oder meine Skurrilitätsantenna verbiegt. Das geht bis zu den halsbrecherischen Namen fiktiver SPAM Versender- sie gelangen bei Gefallen leicht buchstabenvertauscht als "Autoren" ins Reingretchen-Universum. Von besonders bildenden Reiz finde ich, durch Zufall hingeführt, "Zweitbesetzungen" der Historie mit aufzunehmen: Namen von Frauen berühmter Männer, Menschen aus dem Umgang, Gegner, Feinde, Mitspieler und so weiter. Wird mir immer sympatischer, dieses als versteckten Weiterbildungsfall beizubehalten: man sieht sich die Cover an, schlägt Namen nach und gelangt online dann über die Tellerränder der Weltgeschichte..

Beispiel 1: fotoloses Herumadrenalieren im Internet

Oft reicht ein einziger Hinweis, eine kleine Entdeckung in der Stadt, eine Erwähnung eines aufmerksamkeitserregenden Wortes, mich ins Universum Reingretchenbaustelle zu katapultieren: Allein schon das Beispiel des Artikels über den Tanganjika-See -ich habe Fische daraus in einem halbprivaten Aquarium bei mir um die Ecke gesehen und war neugierig - Online-Suchen führte über ein bis drei Sprünge zu Begriffen wie fossiles Wasser, endemitische Arten, die unglaubliche Geschichte des Schiffes Liemba, die Baugrößenbeschränkung von Schiffen durch die Dimensionen des Panama-Kanals und so weiter und so fort.

Beispiel 2: Storyfindung im Rorschachtest

Eine Fahnenstange an prominenter Stelle in Mannheim. Ich fahnde in meinem Hinterkopf nach einem Titel. "Irgendwas mit Politik" drängt sich mir auf. Emporkömmling, Ehrgeiz, Karriere, Fallhöhe, Fahnenstangen und ihr jähes Ende, so was in der Art. Dann gerät das gespannte Seil in den Fokus meiner Aufmerksamkeit. Bergsteigen, warum nicht? Bergsteigen!- auch mal ne nette Art, Politik unter dem Gesichtswinkel der Alpinistik zu sehen. Und zu kriminalisieren.. Also Internet aufgeklappt und los. Ich finde nicht nur einen Titel, sondern gerate auf die Seven Summits- die sieben höchsten Gipfel der Erde, danach in Reinhold Messmers sechsgeteiltes Bergmuseum, zu den beiden Kletterhilfen "Friend" und den "Bühlerhaken" und den kuriosen Satz: "Etwa 2000 Stück hat er mit dem Bohrmeißel gesetzt, weitere 500 mit dem Akkubohrer. Über etwa 7000 Haken, die Kameraden einbohrten, hat er Buch geführt." Ganz zum Schluß das unglaubliche Extremclimb-Video von Catherine Destivelle und die viereinhalb Minuten Schlafzimmerhangeln im Ninja Warrior Style. Nicht, ohne vorher noch ein paar ans mineralogisch-abstrakte grenzende Satelliten-Screenshots von der an Mali angrenzenden Sahara bei 20° 0° zu machen auf ..

Man kann, bei genügend frischer Luft im Hirn, Zeit und Muße gar nicht anders, als in diese "Weiterbildungsfalle" zu geraten. Am dollsten ist es, wenn man irgendwann, Stunden später, den Rückschluß antrifft und irgendwo an der zurückgeklickten Wegstrecke wieder ankommt. Und sieht: das hängt alles zusammen.

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Musik beim Schreiben heute:

Porcupine Tree: "Deadwing", Lava Records, 2005

Donald Fagen:"Kamakiriad", Reprise, 1993

Beanfield: "Human Patterns", COMPOST, 1999

Yasmin Levy: “Libertad”, Adama, 2012